[☆033] Wer wird dich jetzt noch lieben? - Kurzgeschichte
- Jeremy
- 16. Aug.
- 8 Min. Lesezeit
Hallo lieber Lesestern,
endlich gibt es mal wieder eine düstere Kurzgeschichte von mir. Ich hatte sie ursprünglich für einen Schreibwettbewerb geschrieben und eingereicht. Aber da man sie dort nicht wollte, bekommt ihr sie eben hier zum lesen! Also habt ganz viel Spaß damit und haltet euch von düsteren Dörfern und Anwesen fern.
Dein Jerry

Wer wird dich jetzt noch lieben?
Die letzten Strahlen der Sonne verschwinden zusammen mit dem großen Tagesgestirn hinter dem Horizont. Schatten werden länger und verbinden sich schließlich zu einer allumfassenden Finsternis, die jegliche Hoffnung raubt. Schwere Wolken schieben sich über das Himmelszelt und Blitze zucken daraus hervor. Die ersten Regentropfen landen auf den Strohdächern der Häuser und benetzen die Felder großzügig mit dem lebenspendenden Nass. Eine undurchdringliche Kälte macht sich breit und schwelt wie Nebel über dem Land, der beim Einatmen im Hals brennt.
Unweit eines kleinen Dorfes steht ein altes, verlassenes Anwesen, auf dem sich einstmals das prächtigste Gebäude im ganzen Land befand. Doch von all der Pracht ist heute nichts mehr übrig. Die Wände, morsch und brüchig, haben ihre fröhlichen Farben längst vergessen. Stufen sind unter dem Gewicht der Jahrzehnte zerbrochen, Säulen eingefallen und Möbel bis zur Unkenntlichkeit verschlissen.
Die Gebeine vor dem Kamin, an dem sich jene Person einst die Hände wärmte, sind nahezu zu Staub zerfallen. Ihr Blut ist längst zu einem festen Bestandteil des marmornen Fußbodens geworden.
Das Jahrhundert, in dem das Anwesen leer stand, ging nicht spurlos an ihm vorbei. Noch immer erzählt es die tragische Geschichte der Bewohner, deren Gemälde bereits vollständig verblasst sind. Anklagend starren die weißen Leinwände auf die Flure und warten auf Erlösung.
Damals, ein Fundament aus Liebe erbaut, schwelt heute nur noch Reue und Hass zwischen den alten Mauern. Einer endlosen Tragödie folgend, soll die Geschichte allerdings längst nicht zu Ende sein. Denn erneut wird sie durch die ewige Nacht streifen, in der einzig das zuckende Licht der Blitze die Dunkelheit erhellt. Dazu gezwungen immer wieder denselben Schmerz zu durchleben, der ihr einst das Leben gekostet hat.
Während sich draußen ein Unwetter aufbaut, das seines gleichen sucht, erfüllt ein uralter Fluch das Anwesen. Der kalte Nebel dringt durch jede noch so kleine Ritze und Frost bildet sich an den Stellen, über die er hinweg kriecht. Er schafft es bis in den Salon, von dem schon lange keine Wärme mehr ausgeht und umhüllt schließlich die Gebeine.
Ein Blitz schlägt in der Nähe ein und für einen Sekundenbruchteil ist alles taghell. Implosionsartig zieht sich der Nebel zusammen, reißt die Reste des Skeletts mit sich. Danach kehrt wieder Stille ein. Der Staub legt sich und die Tragödie beginnt erneut.
Vor dem Kamin liegt eine junge Frau.
Allmählich erwacht sie aus ihrem Totenschlaf. Mühsam, als hätte sie vergessen, wie man sich bewegt, richtet sie sich auf. Sie schafft es, ihre Glieder langsam zu bewegen und sich schließlich zu erheben. Fahrig streift sich die Frau ihre langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Stumpfe grüne Augen, ohne jeden Lebenswillen, starren aus einem der Fenster. Das schlechte Wetter nimmt sie gar nicht wahr.
Sie wendet sich um, ihr Blick streift über den Kamin, die Sofas und eine Anrichte. Dabei bleibt sie an einem alten Spiegel hängen. Worte erklingen in der Stille der Nacht: “Wie lange erträgst du dein hässliches Antlitz, ehe du den Verstand verlierst?”
Der Hass in den Worten ist dabei so greifbar, dass sie einen Zorn in ihr hochrufen. Ein Gefühl, das sie nicht einzuordnen weiß. Doch nur Sekunden später scheint er sich im Nebel wieder zu verlieren. Übrig bleibt nicht mehr als ein leiser Nachhall, der vom Regen übertönt wird.
Trotz der starken Verschmutzung des Spiegels kann sie sich selbst darin gut erkennen. Ihr einstmals weißes Kleid ist ganz grau vor Staub und völlig abgetragen. Es gleicht einem Totentuch. Ein kalter Windhauch bringt den seidenen Stoff, welches ihre untere Gesichtshälfte verdeckt, in Wallung. Nur für eine Sekunde lässt sich erkennen, was sich darunter verbirgt und ein angstvoller Zug nimmt ihr Gesicht in Beschlag. Doch so schnell er kam, versinkt auch dieser Anflug einer Emotion, im Nebel.
Erneut erschallen Worte und hallen von den Wänden: „Wer wird Dich jetzt noch schön finden?“
Ein grauenvoller Schmerz, der ihr einst zugefügt wurde, durchzieht sie erneut. Wenn sie doch nur wüsste, wer das zu ihr gesagt hatte. Wer ihr derart geschadet und sie hat sterben lassen. Der Nebel über ihren Erinnerungen wird lichter, es erscheinen Bilder an eine lange vergessene Zeit.
Sie erinnert sich an Wärme, Liebe und das Aufblitzen eines Messers im Mondlicht. Vorsichtig gleitet ihre Hand über das seidene Tuch. Sie streift dabei ihre Lippen und zuckt vor Schmerz zusammen. Keinem Realen, doch die schwache Erinnerung an einst reicht bereits aus.
Gepeinigt schreit sie auf, als sich weitere Bilder in ihr Bewusstsein drängen. Sie erinnert sich, wie jemand über ihr kniete, wie das Feuer im Kamin wild zuckte, und an endlose Qualen, die ihr den Verstand raubten. Ihr Schrei hallt durch die Nacht und schreckt schlummernde Vögel auf, die nun aus ihren Baumkronen flüchten.
Ein Blutdurst erwacht in ihr, gegen den sie sich nicht wehren kann. Nicht wehren will. Der Nebel wird dichter und legt sich wie eine Decke über ihr Sein und verschleiert die Reste ihres Ichs. Blutrote Augen durchdringen die Dunkelheit. Ein weiterer Blitz schlägt in der Nähe ein und bringt einen Baum zum bersten. Das Feuer wird durch den Regen direkt im Keim erstickt. Doch ihr Eigenes brennt lichterloh.
Die Frau wendet sich von ihrem Spiegelbild ab und macht sich daran, das düstere Gemäuer zu verlassen. Ihre nackten Füße hinterlassen dabei keine Spuren. Wie in Trance gleitet sie aus dem Anwesen und durch die Reste des einstmals prachtvollen Rosengartens. Die bleichen Blüten lassen ihre Köpfe hängen und wenden sich schamvoll von ihr ab. Fast so, als wären sie an ihrem Leid schuld.
Lautlos wandert sie über einen Kiespfad und gleitet auf den Wald zu. Sie folgt einer Schneise, die sich durch die hohen Tannen bahnt und nimmt kaum etwas um sich herum wahr.
Doch dann durchdringen Geräusche die Nacht. Der Regen scheint leiser zu werden, nur damit sie nichts davon überhört. Der Wald lichtet sich und sie erkennt in der Nähe ein Dorf.
Sie kann hören wie Türen lautstark verriegelt, jedes Fenster verbarrikadiert und das Kerzenlicht durch einen kräftigen Windhauch gelöscht wird. Voller Angst scheinen die Dorfbewohner bei dem kleinsten Luftzug, der durch die morschen Holzhütten pfeift und beim Schreien eines nahen Käuzchens, aufzuhorchen. Die Menschen kauern sich zusammen und warten auf sie. Darauf, dass sich das Geräusch ihrer Schritte ändert, wenn sie vom feuchten Waldboden auf den Kiespfad tritt.
Die Frau weiß um die Angst der Menschen, doch es ist ihr so unendlich fern, wie das Leben, das sie einst hatte. Sie verspürt nur diesen Drang, jemandem den gleichen Schmerz zuzufügen, den auch sie erleiden musste. Sie bleibt auf dem knirschenden Kies stehen und lässt ihren Blick über die Hütten schweifen. Es ist ein einfaches Dorf, ohne jede Besonderheit. Sie hat das Gefühl es zu kennen.
Die Geräusche der Nacht verstummen und das ferne Donnergrollen hallt in der Dunkelheit wieder. Selbst der Wind hält sich zurück, während sie den Dorfbewohnern beim Atmen lauscht.
Sie steuert auf eines der Häuser zu, aus welchem das Geräusch gleichmäßig und ruhig erklingt. Ihre Hand legt sich bereits auf das kühle Holz und ein knarzen antwortet. Die Tür aufdrückend kommt ihr ein Hauch von Wärme entgegen. Sie kann das verloschene Feuer riechen und erkennt noch die Reste der Glut.
Ihr Blick schweift durch den winzigen Raum. Ein Rascheln lässt sie aufhorchen. Ein junger Mann sitzt zwischen aufgestapelten Holzscheiten. Ängstlich starrt er zu ihr auf. Er schafft es noch aufzuschreien, da umklammert sie bereits sein Gesicht.
Sie weiß nicht, woher sie das Messer auf einmal hat. Hatte sie es etwa die ganze Zeit bei sich? Oder hat sie es erst im Dorf an sich genommen? Die Frau schafft es nicht, den Gedanken festzuhalten. Mit chirurgischer Präzision legt sie die Klinge an seinem Mundwinkel an und zieht es durch sein Fleisch, bis hoch zum Ohr. Seine Schreie hallen durch die verstummte Nacht und lässt das Blut der restlichen Dorfbewohner gefrieren.
Kaum ist sie mit einer Seite fertig, nimmt sie sich den anderen Mundwinkel vor. Sein Lebenssaft rinnt zwischen ihren Fingern hindurch und tropft auf den Holzboden. Gleichgültig, ihrer eigenen Brutalität gegenüber, bemerkt sie kaum, wie seine Schreie immer mehr zu einem Wimmern werden.
„Wer wird Dich jetzt noch lieben?“, flüstert sie und lässt ihn los. Wie ein nasser Sack fällt der Mann zu Boden und bleibt liegen. Ob tot oder bewusstlos, weiß sie nicht. Es interessiert sie nicht. Sie spürt nur immer noch diesen Rausch, das Verlangen nach etwas, von dem ihr nicht klar ist, was es ist.
Sich umdrehend bemerkt sie, dass in dem Raum eine weitere Person ist. Im Türrahmen steht ein kleines Kind – ein Mädchen. Ihre Augen strahlen selbst in der Dunkelheit und etwas in der Frau rührt sich.
Sie geht auf das Kind zu und beugt sich hinab. Nichts an ihr wirkt so, als hätte es Angst. Das Mädchen hebt ihre kleinen Hände und legt sie an die Wangen der Frau. Sanft ziehen sie an dem seidenen Tuch und ein Mund, aufgerissen bis zu den Ohren, kommt zum Vorschein.
Erinnerungen fluten ihre Gedanken. Klar und deutlich sieht sie es vor sich. Es war eine Nacht wie diese, stürmisch und dunkel. Sie stellte den Mann, den sie einstmals liebte zur Rede. Er hatte sie gegen eine andere austauschen wollen. Doch sie verweigerte sich seinem egoistischen Plan und wehrte sich, als er sie vor die Tür setzte. Sie drohte ihm. Wollte ihr gemeinsames Kind mit sich nehmen und gehen. Da griff er zum Messer und entstellte sie.
“Wie lange erträgst du dein hässliches Antlitz, ehe du den Verstand verlierst?”, fragte er sie, während sein eigenes Gesicht dem eines Teufels glich. Das Kaminfeuer warf seine schweren Schatten und ließ ihn aussehen, als wäre er der Hölle entstiegen. „Wer wird Dich jetzt noch lieben?“
„Wer wird mich jetzt noch lieben?“, wiederholt die Frau die Worte, die sich schmerzhaft in sie eingebrannt hatten. Es war das Letzte, was sie hörte, ehe er ihr das Messer in die Brust rammte.
Tränen perlen aus ihren leblosen Augen, die einstmals in einem wundervollen Grün erstrahlten. Zarte Finger streichen über ihre Wangen und wischen die feuchten Spuren weg.
„Ich werde dich immer lieben“, flüstert das kleine Mädchen. Sie nimmt die Frau in den Arm und wärmt damit das verstummte Herz. Jetzt fällt ihr auch wieder ein, woher das Messer stammte. Sie hat es sich selbst aus der Brust gezogen.
Sich der Umarmung hingebend, spürt sie, wie sich der Nebel immer weiter verzieht. Mit jeder Sekunde wird alles klarer, die Nacht heller und schließlich beginnt ein neuer Tag.
Die Frau schiebt das Kind vorsichtig von sich und schenkt ihr ein Lächeln. Dann steht sie auf und wendet sich der Türe entgegen. Als der erste Sonnenstrahl auf ihre Haut trifft, fängt die Stelle an zu brennen. Dennoch lächelt sie weiter.
Ein letztes Mal sieht sie zu dem Mädchen und flüstert: „Es tut mir unendlich leid, dass ich dich nicht beschützen konnte!“
Sie verlässt die Hütte und schließlich das Dorf. Während sich das Sonnenlicht immer tiefer in ihren Leib brennt, wandert sie den Weg weiter bis zum Anwesen zurück. Die Schmerzen sind unerträglich. Lautlos perlen Tränen über ihre Wangen und zerschellen auf dem Boden. Erneut gleitet sie durch den Rosengarten, den sie vor so vielen Jahren angelegt hatte. Die Stufen hinauf, in das Haus, das sie mit ihrem Liebsten errichtet hatte. Stein für Stein hatten sie es erbaut, bis er es im Alleingang niedergerissen hat.
Vor dem Kamin stehenbleibend sieht sie ein letztes Mal aus dem Fenster, ehe sie erneut zu Staub zerfällt. Sie bekommt nicht mehr mit, wie das Mädchen nun ebenfalls das Haus betritt. Die Kleine läuft zielgerichtet in den Salon und auf den Spiegel zu. Daneben hängt ein Bild an der Wand. So verblichen, dass kaum noch erkennbar ist, wer einst darauf verewigt werden sollte. Dennoch greift sie danach und blickt liebevoll drauf. Im schwachen Sonnenlicht zeigt sich auf dem Papier, die Gestalt einer Frau mit einem Baby im Arm.
„Egal wie oft du auch durch den Fluch zum Erwachen gezwungen wirst und alleine durch die Nacht streifst. Ich werde dich immer finden. Ich werde dich immer lieben, Mama!“
Ihre Silhouette verblasst langsam. Das Anwesen bleibt in der Stille zurück, wartend auf ein weiteres Unwetter. Auf die nächste Nacht, in der sich die Tragöde erneut wiederholt.







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