[☆031] Der Wächter vom Ende der Welt - Kurzgeschichte
- Jeremy
- 14. Aug.
- 6 Min. Lesezeit
Hallo lieber Lesestern,
du hast "Not the Hero" bereits gelesen und willst mehr? Mehr von der Welt, von den Charakteren und vor allem noch mehr zu ihren Hintergründen? Dann habe ich hier eine kleine Kurzgeschichte zum Wächter vom Ende der Welt.
Du weißt nicht, wer er ist? Dann finde es jetzt raus!
Schreib mir doch gerne in die Kommentare, wie dir die Geschichte gefällt! Ich freue mich über dein Feedback.
Dein Jerry

Der Wächter vom Ende der Welt
Hundert Jahre vor den Ereignissen in ‘Not the Hero’
Schwer bewegt er sich durch den kniehohen Schnee. Die Kälte des Windes und seiner nassen Kleidung kriecht ihm bis in die Knochen. Das Schlottern seiner Zähne hat längst aufgehört, da es mehr Energie kostet, als er zur Verfügung hat. Jeder Schritt fühlt sich an wie eine Ewigkeit, und stellenweise ist er sich nicht einmal sicher, ob er sich überhaupt noch vorwärts bewegt.
Um ihn herum befinden sich schier endlose Schneefelder, die nur hier und da von einem Hügel oder ein paar wenigen Tannen unterbrochen werden. Das einzig Außergewöhnliche an diesem kalten Ort ist die gigantische Eismauer. Sie erhebt sich hinter dem Feld bis weit in den Himmel.
Sie ist sein Ziel.
Doch der Grund, weshalb er einen weiteren Schritt macht, ist die Stimme in seinem Kopf. So wundersam und wohlklingend, dass es ihm irgendwann nicht mehr möglich war, ihre Worte zu ignorieren. Und er hat es wirklich versucht.
«Du musst zum Ende der Welt.» Diesen Satz hat sie ihm beinahe täglich zugeflüstert. «Sonst wird euch der Untergang unvorbereitet überrollen.»
Er hielt es anfangs für eine geistige Störung und hat sich von unzähligen Heilern untersuchen lassen. Doch mittlerweile ist ihm klar, dass es ein Ruf ist. Es ist die Stimme dieser Welt.
Hangaia selbst ruft nach ihm.
Fester zieht er den schweren dunkelblauen Mantel um sich und erinnert sich an die lange Reise, die nun hinter ihm liegt. Sie begann vor mehr als zwanzig Monden, in einer Stadt auf dem Festland. Er hat alles zurückgelassen, seine Frau und seinen Sohn, nur um dem Drängen der Stimme zu folgen. Für eine Reise, deren Sinn er nicht kennt.
Sein Ziel sollte auf der Insel Skirtingai liegen, der letzten Insel dieser Welt, hinter ihr erhebt sich nur noch das Ende.
Unterwegs hatte er versucht sich über diesen Ort informiert. Obwohl er von großer Bedeutung für den Schutz der Weltbevölkerung ist, sind die Informationen dazu rar gesät. Nicht einmal die Vestica konnten ihm viel darüber erzählen und sie sind die Wächter allen Wissens.
Laut dem, was er herausfinden konnte, ist die Insel in vier Reiche aufgeteilt, die jeweils eine Jahreszeit repräsentieren. Dort leben Menschen und Dämonen gleichermaßen. Doch im Gegensatz zu anderen Orten verstehen sie sich auf Skirtingai nicht sonderlich gut. Die Inselbewohner bekämpfen sich nun bereits so viele Jahrhunderte, dass Frieden unmöglich erscheint.
Seine müden Augen richten sich auf das massive Eis, während er sich fragt, ob die Gerüchte, die ihm vom Ende der Welt zu Ohren gekommen sind, wohl der Wahrheit entsprechen. Ob dahinter wirklich ein Meer voller Reichtümer darauf wartet, entdeckt und geplündert zu werden?
«Dort lauert nur Dunkelheit», flüstert die Stimme. «Dunkelheit und Zerstörung, die danach verlangt, von einer unbedachten oder gierigen Seele entfesselt zu werden.»
Er lauscht der Warnung, doch da er selbst nicht nach Reichtum strebt, spürt er, dass sie nicht ihm gilt.
Schließlich schafft er es bis zum Gletscher und legt vorsichtig eine Hand auf das Eis. Er kann spüren, wie es pulsiert. Fast so als wäre es ebenso lebendig wie er selbst. Die Berührung fühlt sich irgendwie warm an, wie eine Umarmung. Ohne dass es ihm die Stimme verraten muss, weiß er bereits, was er da spürt: Es ist der Puls der Welt.
«Was soll ich nun tun? Welche Aufgabe soll ich für dich erfüllen?», fragt er und lauscht in sich hinein. Aus einem Gefühl heraus schließt er die Augen, und ihm erscheinen unzählige Bilder.
Er erkennt sich selbst auf einem Thron aus Eis; wie das Volk ihn als König verehrt und ihm hilft, aus dem Schneereich einen Ort zu machen, an dem Menschen und Dämonen zusammen leben. Aber er sieht sich auch auf Reisen, wie er einen Wald aus Kristallen durchquert und in dessen Herzen ein Kind findet. Wie er es aufzieht und dann …
«Ich werde also für diese Aufgabe sterben», murmelt er in seinen festgefrorenen Bart. «Es sollte mich wohl mehr überraschen, aber ich hatte wohl bereits damit gerechnet.»
Doch die Bilder enden nicht mit seinem Tod. Hangaia zeigt ihm, wie es danach weitergeht. Immer wieder sieht er das Kind aus dem Kristallwald, wie es aufwächst, leidet und verliert. Wie das Reich, das den Namen Hivern erhält, verflucht wird. Einsam durchstreift das Kind sämtliche Orte der Insel, um die Heimat, die ihm von seinem Ziehvater vermacht wurde, zu retten. Ein junger Mann, der das Vermächtnis ehrt.
Je mehr er dabei zusieht, welch Schicksal seinem Jungen bevorsteht, desto stärker wächst in ihm das Bedürfnis, ihn zu finden. Er muss dafür sorgen, dass das Kind vorbereitet ist. Er muss stark genug sein, um diesen Kampf zu bestehen.
Er öffnet seine Augen und beendet damit die Bilderflut. Das Letzte, was er noch zu Gesicht bekam, war der Anblick des Kindes, längst ein Mann, wie er unter einer Eiche liegt. Vor ihm kniend ein braunhaariger Junge mit seltsamer Kleidung.
Erneut erklingt die Stimme. Doch statt sie wie sonst in seinem Kopf zu hören, erschallt sie dieses Mal aus dem Eis.
«Du musst zum Wächter vom Ende der Welt werden. Verhindere, dass jemand in das Reich dahinter dringt, und sorge dafür, dass nach dir ein würdiger König folgt. Erfülle dein Schicksal und finde den Jungen.» Sie klingt leicht anders als sonst, dunkler und weniger sanft. Doch da er sie zum ersten Mal von außen hört, nimmt er an, dass es daran liegt.
«Wenn das dein Wunsch ist, Hangaia, dann komme ich dem nach und widme den Rest meines Lebens dem Schutz des Gletschers und der Ausbildung des von dir erwählten Sohnes.»
Er verbeugt sich leicht und spürt, wie eine warme Energiewelle über ihn schwappt. Sie wärmt seine Glieder und lässt seinen gefrorenen Bart wieder auftauen. Spürend, wie die Lebensgeister zu ihm zurückkehren, setzt er seine Reise fort, um das Reich, das viele Jahre später von seinem Sohn regiert würde, zu gründen.
Doch es sollte ein weiteres halbes Jahrhundert dauern, ehe er ihn schließlich findet.
Der Kristallwald ist so schön, wie er ihn all die Zeit in Erinnerung behalten hat. Er liegt gut versteckt auf einer kleinen Insel nahe Skirtingai. Doch endlich hat er ihn gefunden und hofft, dass er nicht zu spät ist. Er folgt einem Pfad ins tiefste Innere des Waldes, vorbei an Bäumen, von denen jeder einem gläsernen Kunstwerk gleicht, und Blumen, die das Sonnenlicht wie ein Prisma brechen. Das dadurch wundersame Licht macht den ohnehin schon wundervollen Ort nur noch mysteriöser.
In der Ferne vernimmt er ein seltsames Klirren, und vorsichtshalber bereitet er sich auf einen möglichen Kampf vor. Mit gezogenem Schwert schleicht er weiter und nähert sich dem Geräusch. Doch als er schließlich eine Lichtung erreicht, die zum Großteil von einem Kristallsee eingenommen wird, beruhigt er sich wieder. Um den See herum sitzen unzählige Frösche. Sie sind schneeweiß und haben eine filigrane blaue Blumenmusterung auf ihrem Rücken. Es sind Porzellanfrösche, eine seltsame Kreation uralter Magie. Obwohl sie lebende Wesen sind, gleichen sie doch mehr einer Vase. Und immer dann, wenn das Porzellan auf die Kristalle trifft, erschallt das klirrende Geräusch, das er zuvor gehört hatte.
Direkt am See befindet sich eine Ansammlung der Wesen, die etwas in ihrer Mitte zu verbergen scheinen. Vorsichtig tritt er darauf zu. Aufgeregt springen die Frösche aus seinem Weg und geben schließlich den Blick auf ein braunes Stoffbündel frei. Mit spitzen Fingern greift er danach und zieht den Stoff ein Stück zur Seite.
Friedlich schlummert darin das Kind, nach dem er so lange gesucht hatte. Die Wangen, auf denen sich violette Linien zeigen, sind leicht gerötet und ein Flaum silberner Haare wächst bereits auf seinem Haupt. Ungerührt von den Fröschen und seiner Anwesenheit, nuckelt es am Daumen.
Ihm fällt auf, dass es sich bei dem Jungen um einen Dämon handelt. Und es überrascht ihn, dass Hangaia, bei all dem Hass und den Kämpfen auf Skirtingai, ausgerechnet ein dämonisches Kind auswählt, um in der Zukunft über eines der Königsländer zu herrschen. Schließlich hat genau das in der Vergangenheit zu vielen Problemen geführt. Doch vielleicht hat sie deshalb auch ihn her geschickt. Er kann dafür sorgen, dass sein Kind es besser machen wird und sich die Geschichte nicht wiederholt.
Er hebt das Bündel auf, nimmt es auf den Arm und wiegt es sanft. Dabei erwacht der Säugling und sieht ihm aus goldenen Augen entgegen. Bereits damit rechnend, dass das Kind jeden Moment anfangen könnte zu weinen und zu schreien, sucht er nach beruhigenden Worten.
«Alles ist ...», fängt er an zu flüstern und wird von einem Glucksen unterbrochen. Das Kind lacht auf und streckt seine Arme nach dem Bart aus. Die kleinen Hände verknoten die Haare und ziehen immer mal wieder daran. Doch er kann nicht anders, als darüber zu lächeln. Er beugt sich vor und platziert einen Kuss auf der Stirn seines Sohnes.
«Endlich habe ich dich gefunden, Yujin.»









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