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[☆034] Tanz der See - Kurzgeschichte

Hallo lieber Lesestern,


ich hoffe du bist bereit für eine wundervolle Kurzgeschichte, voller Gefühl und Mystik. Mit Gänsehautmomenten bis zum Schluss! Es hat mir mega viel Spaß gemacht die Geschichte zu schreiben und ich hoffe, sie gefällt dir.


Dein Jerry


Weihnachtsbaum


Wer wird dich jetzt noch lieben?

Der Nebel hängt tief und eine unheimliche Kälte kriecht über den Boden.

    Eine junge Frau geht den Strand entlang, dort, wo der Sand unter den Schuhen nachgibt und das Wasser die Kanten ihrer Schritte ableckt. Fast als wolle es prüfen, ob sie die Richtige ist. Sie weißt nicht genau, warum sie hier ist. Nur, dass heute Nacht jemand nach ihr ruft. Es liegt ein Wispern im Wind und ein Grollen im Untergrund. Ihr Körper gehorcht dem Ruf, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen kann.

Von irgendwoher kommt das Klirren einer Eisenkette, die immer wieder von der Brandung gegen ein Schiffskelett geschlagen wird. Weiter draußen erkennt sie aufgerichtete Schatten: Masten wie Kreuze, Taue wie welke Blumen. Der Seemannsfriedhof, den niemand mehr besucht, außer der See selbst.

    Es riecht nach Salz und kaltem Metall. Sie nimmt sogar einen Hauch von Teer wahr, als trüge die Seeluft den Duft vergangener Zeiten zu ihr. Damals, als der Kapitän, dieser untergegangenen Flotte, noch genüsslich an seine Pfeife zog.

    Die Flut kommt. Nicht hastig, nicht gierig.

    Sie gleicht einer Hand, die das Tischtuch glattstreicht, bevor sie nach unbedarften Personen greift und sie mit sich in die Tiefe reißt. Die Wellen rollen heran und halten inne. Ein Herzschlag, zwei, vergehen. Dann ziehen sie sich zurück, flüstern, kommen wieder.

    Die Frau bleibt stehen, dort, wo der Schaum noch zögert.

    Der Nebel verdichtet sich vor ihr, und sie erkennt eine formlose Silhouette. Sie kommt näher, wird klarer, menschlicher. Dann durchbricht eine Hand die Nebelwand.

    Durchscheinend. Als sei sie nur aus Wasser, das beschlossen hat, einen Moment lang eine Form zu haben. Tropfen perlen von ihr ab, sammeln sich am Boden und fließen zurück in den Nebel. Die junge Frau wartet kurz. Skeptisch betrachtet sie die Erscheinung.

    Ein Drang in ihr wird laut, wie ein ziehen in ihrer Brust. Sie streckt ihre eigene Hand aus. Zögerlich greift sie nach der aus Wasser und feuchte Kälte erklimmt ihren Leib. Sie schüttelt sich. Gänsehaut breitet sich über ihren Rücken aus.

    Die See hebt ihren Blick. Der Nebel zieht sich wie ein Vorhang zur Seite, und aus ihm tritt eine Gestalt: ein Mann in einer Uniform. Sie ist uralt und viele Stellen wurden ausgebessert, vom Meer neu genäht. Salz hat die Ränder bestickt, Algen haben die Nähte geschlossen, Muschelschalen sind zu Knöpfen geworden.

    Der Fremde ist durchscheinend. Dennoch liegt seine Hand schwer ihn ihrer, das Wasser längst verschwunden. Sie erkennt in ihm einen Kapitän. Oder viel mehr, ist es die Erinnerung der See, daran, wie er wohl einst ausgesehen hat. Ein Geist, des Meeres.

„Komm“, flüstern die Wellen ihr zu. Sein Griff wird fester. Nicht unangenehm, eher so, als befürchte er, sie würde fliehen.

    Der Geisterkapitän tritt näher und greift nach ihrer zweiten Hand. Die Kälte ist erträglich. Sie fällt ihr kaum mehr auf. Zu sehr ist sie vom Moment gefesselt. Möchte wissen, was nun passiert.

    Ein seltsames Gefühl überkommt sie, als sie in die dunklen Augen des Mannes blickt. Ein Gefühl, das nicht das ihre ist: Die See hat Sehnsucht. Sie sucht Nähe und Wärme, die nur durch Zweisamkeit entsteht. Ein unschuldiges Sehnen nach Halt.

    Die junge Frau nickt auf die stumme Frage, nach ihrer Einwilligung, und sie setzen sich in Bewegung. Eine seiner Hände greift an ihren Rücken, und ihre eigene legt sich auf seine Schulter. Erst weiß sie nicht, was sie tun soll. Dann finden ihre Füße den Takt ganz von allein. Sie lässt sich davon treiben. Geborgenheit umhüllt sie.

    Die Brandung gibt den Takt. Vor, zurück. Seit, heran. Ein, aus. Das Meer holt Luft, und sie macht es ihm gleich. Ihre Füße zeichnen Kreise in den nassen Sand. Worte, die nur Sekunden Bestand haben, ehe sie vom Wasser verschlungen werden. Er führt sie mit einer solchen Sicherheit, dass jeder Zweifel und jede Frage hinfortgefegt wird. Alles, was bleibt, ist der Moment.

    Das Läuten einer Glocke ertönt irgendwo unter der Oberfläche. Sie schlägt im gleichen Rhythmus wie ihr Herz. Eins. Zwei. Drei. Der Nebel tanzt mit, verwischt Kanten, schenkt dem Raum Weichheit. Und während sich die beiden drehen, verschieben sich die Ränder der Nacht. Mondlicht schimmert zu ihnen hinab. Erfüllt den Strand mit seinem kalten Licht.

    Sie fühlt Wärme. Zuerst ist sie nicht sicher, woher sie kommt. Dann merkt sie, es ist ihre eigene, zurückgeworfen vom Kapitän der See. Seine Kälte wird zu ihrer Wärme. Ein ewiges hin und her, dass sie verbindet.

    Schulter an Brust. Hand an Rücken. In des Kapitäns Augen glänzt etwas. Einsamkeit und Verlust. Er hat vor langer Zeit losgelassen, was ihm am wichtigsten war, und doch wünscht er sich nichts mehr, als es noch einmal zu halten. Ob sie ihm geben kann, wonach er sich so sehr sehnt?

    „Wie heißt du?“, fragst sie so leise, dass sie nicht weiß, ob sie es überhaupt ausgesprochen hat. Der Kapitän blinzelt, und für einen Atemzug liegt in seinen Augen etwas neues.

    „Ich hatte einen Namen, doch habe ich ihn in der tiefblauen See verloren“, flüstern die Wellen für ihn, der keine Stimme mehr hat. Sie versteht und hakt nicht weiter nach. Es würde den Moment ins wanken bringen.

    Das Paar schwenkt, ein sanfter Bogen, und der Wind hält den Atem an, um die Tanzenden nicht zu stören. Sie legt ihre Wange an die kühle Schulter und stößt auf Widerstand. Doch dahinter ist nichts. Kein Pochen, kein Leben.

    Der Takt ihrer Schritte wird schneller. Nicht viel, gerade so, dass ihr Herz kurz stolpert. Es fängt sich, pocht dann fester, wach, freudig. Die See nimmt jedes Pochen an, trägt es weiter, füllt es in die Hohlräume der Wracks, wo noch Luftblasen hingen wie vergessene Gebete. Kleine Lichter entsteigen ihnen und sammeln sich über dem Meer. Wie Sterne hängen sie in der Luft. Ein Anblick, der die junge Frau zu Tränen rührt.

    Noch ein Schritt. Noch ein Schwenk, ein Heben, ein Senken.

    Der Kapitän lächelt nicht. Seine Lippen haben vergessen wie. Sie kann es dennoch spüren. Der Takt biegt ins Letzte ein, wie alle Tänze, die wissen, wann sie enden müssen. Sie nimmt es wahr, ohne es zu wollen: das Ziehen nach hinten, die Leere, die sich ankündigt, die Stille, die sich vorbereitet ihr Herz zu verschlingen.

    Und dann hält das Meer den Atem an.

    Die Lichter verblassen. Die Brandung verstummt. Schaumkämme frieren zu Spitzen, die nicht mehr brechen. Die Glocke schweigt zwischen zwei Schlägen. Ihr Herz schlägt unendlich langsam. In diesem Augenblick löst sich der Druck unter ihren Händen.

Er wird leichter.

    Leicht wie Dampf. Leichter als ein Gedanke, der den Satz nicht zu Ende bringt. Der Kapitän wird blasser. Seine Augen leuchten, weit mehr, als es der Mond je könnte. Sie kann spüren, wie das Meer ihr Dankbarkeit zuflüstert, ehe er für immer im Restnebel verschwindet.

    Der letzte Tanzschritt findet ohne Partner statt. Ihre Füße setzen ihn trotzdem. Die Stille wird lauter und dann spürt sie, wie das Meer aufatmet. Die Wellen machen wieder Geräusche. Das Rauschen hallt in ihrem Kopf nach und Tränen bahnen sich ihren Weg über ihre Wange.

    Die Brandung nimmt ihren gewohnten Takt auf, fast als sei nichts geschehen. Als hätte es diesen Tanz nie gegeben.

    Sie steht noch eine Weile am Strand. Ihre Hände sind feucht. Auf ihren Lippen schmeckt sie Salz. Der Nebel hat seine Dichte verloren und lässt sie auf die See hinausblicken. Der Seemannsfriedhof liegt friedlich da.

    Fern schlägt die Glocke weiter, pflichtbewusst, ohne Gefühl für den Moment, der gewesen ist. Doch für sie war es unvergesslich. Ein zeitloser Augenblick, in einer hektischen Welt. Ein Aufatmen, in der Atemlosigkeit. Eine Wärme, die nachhallt.

Sie bleibt bis erste Sonnenstrahlen den Horizont erklimmen. Dann dreht sie sich um und geht. Zurück an den Ort, an dem ihre Familie ist. Sicher werden sie ihr Verschwinden bereits bemerkt haben. Sich um sie sorgen.

    Auf halbem Weg dreht sie sich ein letztes Mal um. Kein Fußabdruck bleibt.

    Sie legt eine Hand an ihre Brust. Doch in ihr verbleibt etwas. Ein Rhythmus, der ihr Herz zum Tanzen bringt. Tief atmet sie die Seeluft ein und lässt das Meer hinter sich zurück.

 
 
 

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