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[☆024] Spiegelflucht - Kurzgeschichte

Hallo lieber Lesestern,


ich habe mal wieder eine etwas ältere Kurzgeschichte für dich mitgebracht. Ich sags aber lieber gleich, sie ist etwas düsterer und kann durchaus triggern. Deshalb findest du hier die Content Notes:


Content Notes (ganz kurz)

Content Notes (etwas ausführlicher)


Die Geschichte beruht zu großen Teilen auf der Art und Weise, wie ich mein Leben früher wahrgenommen habe. Wie ich mich anderen angepasst habe und doch nie gut genug war. Das war lange bevor ich mich als trans geoutet habe und einen Neuanfang als Jeremy gewagt habe. Trotzdem schmerzen die Narben von damals noch immer.


Dein Jerry


Mann am Bahnhof


Spiegelflucht

Sie ist wie ein Spiegel, ein Chamäleon, ein Gestaltwandler.

Sie zeigt jedem das, was er sehen will. Und obwohl sich niemand für das hinter der Fassade interessiert, stellen sie Erwartungen an sie, Wünsche und Forderungen. Sie muss makellos sein. Die perfekte Tochter, Schwester und Freundin. Muss immer da sein, freundlich und hilfsbereit. Eben so, wie jeder sie gerade haben will.

In ihren Spiegeln zeigen sich die Gesichter der Menschen. Sie sehen sich selbst, wenn sie sie ansehen. Sie sehen ihr eigenes perfektes Wunsch-Selbst. So wie sie gerne wären, es aber nicht sind. Doch niemals sehen sie, was hinter den Spiegeln liegt. Die Leere, die immer größer wird.

Mit jeder Forderung, jeder weiteren Erwartung zeichnen sich Risse im Spiegel ab. Haarfein und kaum sichtbar. Selbst wenn sie deutlicher wären, würden sie es wahrnehmen? Schließlich sehen alle immer nur sich selbst.

Langsam vergisst sie, wer sie ist. Wird immer mehr zum Spiegel selbst. Sie ist innerlich hohl und spielt ihre Rolle weiterhin perfekt. Genauso wie alle sie haben wollen. Zu jeder Zeit. Selbst dann noch, wenn es keiner sieht. Die Risse werden größer, Teile splittern bereits ab und Löcher klaffen auf.

Sie fängt an, Fehler zu machen. Es fällt ihnen auf, sie werden laut und schimpfen. Sie muss weiter so sein, wie alle sie haben wollen. Nur dafür existiert sie schließlich.

Der Spiegel bricht, doch dahinter ist nichts mehr. Sie ist völlig leer und niemand sieht seine eigene Schuld daran. Sie schreien und zetern, wüten und schimpfen. Geben ihr die Schuld. Sie hat versagt. Wäre sie doch nur genauso, wie alle es sich gewünscht haben! Wäre sie doch nur die perfekte Tochter, Schwester und Freundin.

Aber sie kam an ihre Grenzen. Die zerbrochenen Spiegel spiegeln nur noch die verzerrten Fratzen der Menschen um sie herum. Ihre Lügen und ihre schamlose Zurschaustellung. Ihr eigenes Versagen, das sie für die Menschen richten sollte. Monster in Menschengestalt. Sie schafft es nicht länger, die Leute um sie herum zu spiegeln und gleichzeitig perfekt zu sein. Denn wie soll sie sein, was keiner von ihnen ist?

Langsam vergessen die Menschen sie, ihre Wünsche und Forderungen verblassen. Sie lassen sie zurück und suchen sich jemand Neues, den sie mit ihren Erwartungen zerstören können.

Sie ist nun kein Spiegel mehr. Kein Chamäleon oder Gestaltwandler. Aus der Leere erschafft sie sich selbst. Selbstbestimmt tritt sie ein neues Leben an. Eines ohne Perfektionismus und Erwartungen. Sie erhebt sich aus der Asche und wird zum Phönix. Folgt den Spuren der Zerstörung und heilt mit ihren Tränen jene, die dem Druck nicht gewachsen sind. Hilft ihnen aus ihren Spiegeln heraus.

Sie erschafft sich selbst eine Welt, in der sie glücklich ist. In der es okay ist, einfach zu sein. Wo niemand perfekt sein muss und jeder nur so viel gibt, wie er zu geben bereit ist. Sie füllt die Leere hinter den zerbrochenen Spiegeln mit Hoffnung. Dennoch wird ebenjene Leere, immer ein Teil von ihr sein.



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