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[☆010] Der Schatten - Kurzgeschichte

Hallo lieber Lesestern,


ich habe mal wieder auf Instagram inspirieren lassen und an einer Kurzgeschichten Challenge teilgenommen. Das Thema war: Deine verbitterste Figur darf einen Tag lang Einfluss auf den Plot Deines Lebens nehmen. Was passiert?


Um ehrlich zu sein, hab ich kurz überlegt, die Geschichte wieder zu löschen. Weil es heute nicht um Zwerge, Fantasywelten und coole Abenteuer geht, sondern um mich. Es wird also wahnsinnig persönlich und schmerzhaft.


Gerne beantworte ich Fragen die respektvoll (!) gestellt werden in den Kommentaren und per Nachricht. Trotz vieler schlechter Erfahrungen bin ich nach wie vor der Meinung, dass der Fortschritt im Umgang mit trans Personen mit Verständnis beginnt und wie kann ich das fordern, wenn ich nicht bereit bin, den ersten Schritt zu gehen. So schwer das auch oft leider ist.


Der Schatten ist im übrigen ein wichtiger Charakter in meinem zweiten Buch "The shadow within". Merk ihn dir gut, der wird später sehr wichtig und vielleicht erfährst du dann auch, ob er es schafft sich selbst zu finden und zu jemandem zu werden, der auf sich selbst stolz sein kann.


Hab noch einen wundervollen Tag und sei lieb zu deinen Mitmenschen, man weiß nie, welcher Schmerz sich hinter einem Lächeln verbirgt. Jetzt aber wünsche ich viel Spaß auf dieser kleinen Reise mit dem Schatten.


Dein Jerry


Ein Kind und ein Schatten

Der Schatten

Er wandert lautlos durch die Dunkelheit. Seine Suche hat ihn weit getrieben, nicht nur in eine andere Welt, sondern auch durch die Zeit. Um die eine Person zu finden, die ihn erschaffen hat. Die dafür verantwortlich ist, dass er so viel Leid ertragen musste. So viele Male hat er die Welt und die Götter verflucht. Er hat sie gefragt, weshalb er ist, wie er ist, ohne je eine Antwort zu erhalten. Warum er dazu verdammt ist, ein körperloses und namenloses Wesen zu sein. Seit Anbeginn der Zeit kämpft er verzweifelt um Sichtbarkeit. Dachte sogar einmal, er wäre kurz davor sein Ziel zu erreichen, nur um erneut zu scheitern.


Doch heute ist er seinem Schöpfer so nah wie nie zuvor. Er wagt einen Blick in sein Leben, um ihn den gleichen bitteren Schmerz zuzufügen. Um ihn dann mit der Einsamkeit, die er selbst so lange ertragen musste, zurückzulassen.

Langsam bewegt er sich auf eine große Tür zu und geht hindurch. Licht umfängt ihn und er findet sich in einem Raum wieder, in dem zwanzig Kinder und eine Frau sitzen. Eines der Kinder müsste sein Schöpfer sein, doch welches? Da ihn keiner sehen kann, stellt er sich an eine Wand und beobachtet die Kinder. Sie schreiben irgendwelche Wörter auf und die Frau malt Dinge an die Wand oder geht zwischen den Tischen rum und bewertet die Kritzeleien. Nach einer Weile ertönt ein schrilles Klingeln und die Frau verlässt das Zimmer.


Kaum schließt sich die Tür hinter ihr, springen die Kinder auf und sammeln sich um ein kleines blondes Mädchen, welches sogleich ihren Kopf einzieht. Die Kinder beschimpfen sie, ziehen an ihren Haaren und werfen ihre Sachen auf den Boden. Der Schatten kann hören, wie sie sich gedanklich wünscht, unsichtbar zu werden und einfach zu verschwinden. Doch sie tut es nicht. Fest beißt sie sich auf die Lippen, um nicht zu zeigen, wie sehr es schmerzt. Niemand scheint es zu bemerken, er allerdings sieht es ganz deutlich.

Die Szene löst sich vor ihm auf und setzt sich zu einem neuen Bild zusammen. Dieses Mal ist es ein anderer Raum. Drei Personen sind anwesend. Eine Frau und zwei Mädchen, eines davon, ist das von eben. Die Frau weint, ebenso die kleine Schwester. Doch das Mädchen nicht. Sie steht, genau wie er, wie ein Beobachter daneben. Erneut hört er ihre Gedanken: «Ich muss stark sein. Ich darf jetzt nicht weinen.» Und irgendwie bewundert er sie dafür.


Die Szene verblasst und weitere erscheinen, nur Momentaufnahmen, doch sie alle zeigen das gleiche: Das Mädchen und ihre Einsamkeit. Sie ist allein, egal wohin sie geht und was sie tut. Lässt keinen an sich ran, aus Angst verletzt zu werden. Sie spricht mit keinem darüber, da sie immer noch glaubt, stark sein zu müssen, und keiner bemerkt es. Ihr Wunsch, unsichtbar zu werden, schien sich zu erfüllen. Der Schatten spürt, wie sich Mitleid in ihm regt. Ein Gefühl, von dem er nicht wusste, dass er es empfinden kann. Doch es geht weiter, er hat noch immer nicht alles gesehen.


Eine neue Szene erscheint, das Mädchen ist älter und arbeitet hart. Die Menschen um sie herum sind furchtbar. Der Schatten würde sie am liebsten packen und aus dem Fenster werfen. Wie kann man so mit jemanden umgehen? Doch sie bleibt stark, ist es schließlich alles, was ihr bleibt. In ihrer Freizeit sitzt sie alleine in einer kleinen einsamen Wohnung. Da ist keiner, der nach ihr sieht. Keiner der sich für sie interessiert und immer öfter weint sie sich in den Schlaf. Doch dann passiert etwas mit ihr, sie setzt diesem Leben einen Schlussstrich und fängt neu an. Damit angefangen, dass sie nun herausfinden will, wer sie ist. Der Schatten sieht dabei zu, wie sie vergeblich in verschiedene Richtungen rennt, nur um immer wieder enttäuscht zu werden. Immer öfter fragt er sich, weshalb sie nicht aufgibt. Doch das scheint für sie nie eine Option zu sein.


Solange bis sie bei ihrem Vater landet. Er gibt ihr Arbeit und sie wachsen als Familie ganz neu zusammen. Bewundernd sieht der Schatten dabei zu, wie sie diese Beziehung mit allen Mitteln aufrecht erhält. Und er entwickelt eine Abneigung gegen den Mann, der die Mühe gar nicht zu bemerken scheint, geschweige denn zu schätzen. Doch da ist noch etwas, das Mädchen verändert sich. Sie findet sich selbst und im ersten Moment macht es ihr eine Höllenangst.

Er sieht, wie sie vor dem Spiegel steht, wie schon unzählige Male zuvor und zu sich selbst spricht: «Es ist okay, du selbst zu sein, auch wenn das heißt, dass nicht alle damit einverstanden sind. Du bist es Wert glücklich zu sein.» Sie nickt sich selbst zu und legt etwas ab, das nie ein Teil von ihr war. Aus dem Mädchen wurde ein Mann.


Das überrascht den Schatten wenig, er hat es sehen können. Doch er hat den Vorteil, dass er die Gedanken seines Schöpfers hören kann. Nur dort vermochte er, er selbst zu sein. Der Mann wollte einfach glücklich sein und sprach mit seinem Vater. Der Schatten wäre in diesem Moment am liebsten explodiert. Er mochte ihn ohnehin nicht, doch nun würde er ihn am liebsten in der Luft zerreißen. Seinen Schöpfer so zu sehen, zerbricht ihm das Herz. Schluchzend, weinend und voller Schmerz. Er sah seinen Vater danach nie wieder und der Schatten ist froh darüber. Wie nur kann man sein eigenes Kind verstoßen? Der Schatten regt sich bitterlich darüber auf und ist wahrlich froh, dass ihn keiner dabei sieht. Als sich diese Szene vor ihm auflöst, ist er fast dankbar, dass keine Weitere darauf folgt. Er ist in der Gegenwart angekommen. Sieht, wie der junge Mann ein ehrliches Lächeln trägt und von Menschen umgeben ist, die ihn genauso lieben, wie er ist.


Der Schatten betrachtet ihn lange und fragt sich, wie er das alles durchhalten konnte. Er selbst war so lange allein und unsichtbar, hat ständig rebelliert und gekämpft. Doch während seiner Betrachtung, bemerkt der Schatten, dass auch sein Schöpfer gekämpft hat. Nur eben sehr still.

Weshalb hat der junge Mann jemanden wie ihn erschaffen? «Unwichtig!», beschließt der Schatten. Er dreht sich um und eilt durch all diese Szenen zurück, dabei sucht er nach einem passenden Moment. Kurz bevor er die Tür erreicht, findet er ihn. Er tritt ins Licht und auf seinen jungen Schöpfer zu. Wieder ganz klein und mit Tränen im Gesicht, sitzt er auf einer Schaukel. Der Schatten geht auf ihn zu und kniet sich vor ihn. Verwirrt sieht ihn das Kind an, doch es zeigt keinerlei Angst. Da wird dem Schatten klar, dass es nichts an ihm gibt, was das Kind ängstigen könnte. Schließlich läuft er so häufig mit gesenktem Kopf durch die Welt, dass ihm sein eigener Schatten wohl bekannt ist.


Er hat, solange nach seinem Schöpfer gesucht und sich ausgemalt was er ihm sagen würde, sollte er ihn finden. Da war alles dabei, von Beschimpfungen bis Todesdrohungen. Doch nun, wo er weiß, dass er nur einen Bruchteil, dessen durchmachen musste, was sein Schöpfer durchgestanden hat, kommen sie ihm belanglos und dumm vor. Stattdessen kommen ihm nun andere Worte in den Sinn:

«Danke, dass du solange durchgehalten hast, um mich zu erschaffen. Eines Tages, möchte ich dir gerne erneut begegnen. Doch bis dahin werde ich von deiner Stärke lernen.»


Dann steht der Schatten auf und verschwindet wieder, er tritt durch die Tür hindurch und lässt sich erneut von der Dunkelheit verschlingen. Doch dieses Mal macht es ihm nichts aus und während er in seine eigene Welt zurückkehrt, trifft er eine wichtige Entscheidung.

Er möchte sich selbst finden. Herausfinden wer er ist und endlich zu jemanden werden, jemand mit Gestalt und Namen. So wie sein Schöpfer es geschafft hat. Das ist etwas, das nur er alleine machen kann. Ein letztes Mal dreht er sich um und erinnert sich an das strahlende Gesicht, als der junge Mann in den Spiegel sah und sich zum ersten Mal selbst entgegenblickte. Seinem wahren Ich.

Bei dem Versuch, das Leben des Mannes zu beeinflussen, wurde sein eigenes auf den Kopf gestellt. Doch nun ist der Schatten stolz darauf, von solch einem starken Menschen erschaffen worden zu sein und froh darüber, ihm endlich begegnet zu sein.


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