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[☆029] Die taube Lichtung - Kurzgeschichte

Hallo lieber Lesestern,


vor langer Zeit habe ich mal eine Geschichte zum Thema Angst geschrieben und weil das ganze irgendwie bei mir hängen geblieben ist, musste ich nochmal ran. Beide Geschichten beruhen auf Träumen, die ich als Kind tatsächlich hatte. Also auf echten Ängst. Und während die erste Geschichte, viel mit Identität zu tun hatte, ist "Die taube Lichtung" etwas mehr das, was man unter Angst versteht. Zumindest glaube ich das.


Schreib mir doch gerne unten in die Kommentare, was du von der Geschichte hältst! Ich würde mich sehr darüber freuen.


Dein Jerry


Weihnachtsbaum


Die taube Lichtung

Wir waren Campen. Ich erinnerte mich nicht mehr daran wieso oder wie wir hierher gekommen waren. Doch machte ich mir auch keine großen Gedanken darüber. Stattdessen sah ich meinen Eltern dabei zu, wie sie ein Zelt aufbauten. Trotz Anleitung stellten sie sich ziemlich an. Es machte so einen Spaß, ihnen bei ihren Versuchen zuzusehen, dass ich nicht merkte, wie die Zeit verging. Oder ob sie überhaupt verging.

Doch nach einer Weile wurde es dunkel und da niemand auf mich achtete, beschloss ich, dass es eine tolle Idee wäre sich im Wald mal genauer umzusehen. Ich ging in irgendeine Richtung davon. Der Mond zeigte mir den Weg und um mich herum erstrahlte der dunkle Hain in ganz neuem Licht.

Lange lief ich so durch das Dickicht und erfreute mich an jeder Kleinigkeit. Ich sah Eulen aus ihrem Schlaf erwachen und Eichhörnchen, die sich in ihren Baumlöchern zu Ruhe legten. Mäuse liefen um meine Beine herum und Insekten schwirrten durch die Luft.

Stehen blieb ich aber erst, als ich an einer Lichtung ankam. Langsam, wie in Zeitlupe sah ich mich um. Der Ort war umgeben von hohen Eichen und Fichten, die von dichtem Efeu umschlungen wurden. In der Mitte der Waldwiese sprudelte und gurgelte ein kleiner Bach und floss fröhlich in einen Seerosenteich hinein. Von jeder der Seerosen ging ein helles Licht aus, mystisch und wunderschön zugleich.

Um den Teich herum erstreckte sich bis zum Rande der Lichtung eine gigantische Blumenwiese. Einige erkannte ich. Hatte meine Mutter doch immer ein Faible für Blumen gehabt. Es blühten rosa Anemonen, gelbe Ringelblumen und blaue Callas. Hier und da sah ich auch weiße Chrysanthemen, die spitzbübisch aus dem Blumenmeer herausragten.

Kleine Lichtkugeln tanzten über das Meer und als sich eine davon auf dem welken Blatt einer der Chrysanthemen niederließ, erkannte ich auch, was es war - ein Glühwürmchen. Ich kniete mich nieder, um das Tierchen genauer betrachten zu können. Noch im selben Atemzug flog es in wilden Kreisen davon. Begeistert lief ich hinter her. Durch die Bewegung wachgerüttelt fing die Lichtung an zu erwachen und ein angenehmer Geruch stieg mir in die Nase.Ich erkannte ihn.

Rosmarin. Ich liebte es, wenn mein Vater damit kochte.

Ein leichter Wind ließ Blätter durch die Luft wirbeln und hielt die märchenhafte Lichtung in Bewegung. Ich lief und tollte durch die Blumen. Lautes Lachen erfüllte den Ort und immer mehr Glühwürmchen kamen zu mir.

Je näher ich an den Teich herankam, desto größer wurde meine Freude. Aber es setzte auch ein merkwürdiges Ziehen in meiner Brust ein. Ich ignorierte es, bis ich einen grauenvollen Schmerz spürte.

Mein Schrei war wie ein Sturm.

Er fegte die Lichtung regelrecht hinfort. Von einem Augenblick zum nächsten waren alle Blumen, Bäume und Glühwürmchen verschwunden. Der Wald war auf einmal kalt und leer. Ich sah in einen sternenlosen Himmel und mir wurde erst jetzt bewusst, dass ich am Boden lag.

Ich spürte eine merkwürdige Wärme an meiner Seite. Schmerz durchzuckte mich, als ich nachsehen wollte, woher sie kam. Langsam tastete ich mit meinen Fingern danach.

Taubheit.

Ich spürte sie nicht. Weder die Finger noch das wonach sie greifen sollten.

Neben mir bewegte sich plötzlich etwas. Mit leerem Blick starrte mich ein Monster an. Im Mondlicht schimmerten seine grünen Schuppen wie Juwelen und seine Augen und Zähne leuchteten wie Perlmutt. Ich war fasziniert und hatte zugleich panische Angst.

Langsam öffnete die Kreatur sein Maul und ich sah, wie sich rote Rubine vom Perlmutt lösten und zu Boden fielen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich verstand, was das bedeutet. Es hat nie eine Lichtung gegeben. Ich lief durch den Wald, bis ich an einen Fluss kam. Dort tollte und spielte ich, solange herum bis ein Krokodil auf mich aufmerksam wurde. Es griff an und zerriss mich.

Ich spürte meine Finger nicht mehr, weil ich keine mehr hatte. Auch der Schmerz an meiner Seite hatte denselben Grund. Glitzernde Perlen lösten sich aus meinen Augen und zerklirrten leise auf dem Waldboden.

„Ich will nicht sterben“, flehte ich das Krokodil an. Doch wusste ich genau, es würde mein Flehen nicht erhören. Die Augen schließend erwartete ich weiteren Schmerz, während sich die Taubheit in mir ausbreitete.

„Mama, Papa“, flüsterte ich und versank in tiefem schwarz. Erst ein rütteln und schreien riss mich wieder ins Licht.

„Nicht aufgeben! Bitte du musst durchhalten!“, eine vertraute Stimme. Eine Stimme, die mir Liebe und Geborgenheit versprach.

„Halte durch! Hilfe ist schon unterwegs!“, eine zweite Stimme. Sie versprach mir Sicherheit und Freude.

Ich kannte sie. Doch der Schmerz ließ mich ihre Namen vergessen. Wer wart ihr? Ihr, die so verzweifelt nach mir riefen.

Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Im schwachen Mondlicht erkannte ich eine Frau. Tränenverschmiert sah sie mich an und wippte sacht vor und zurück. Ich wollte eine Hand heben und ihre Tränen trocknen, doch mein Körper rührte sich nicht.

Hatte ich überhaupt noch einen?

Meine müden Lieder klappten wieder zu. Mein Geist entglitt mir und wenige Sekunden später sah ich mich selbst. Wie ich, mein zerschundener und zerrissener Körper, in den Armen einer Frau lag. Ein Mann saß neben uns im Schlamm und hielt sich an meiner Schulter fest.

Ich versuchte, auf sie zuzugehen, doch ich konnte mich nicht bewegen. Nur zusehen. Zusehen wie die beiden, deren Namen ich vergessen hatte, meinen leblosen Körper hielten und weinten. Leise Worte drangen an mein Ohr. Flehendes Klagen. Bitten an mich, nicht zu sterben. Doch war es längst zu spät.Ich sah, wie sich eine letzte Träne aus meinem Augenwinkel löste und auf dem Handrücken des Mannes zerschellte. Lichter näherten sich. Hilfe kam, doch sie war zu spät. Keiner von uns war mehr zu retten.

Ich erinnerte mich zurück an die Blumenwiese und stellte mir vor, wie es wohl gewesen wäre, hätte es sie tatsächlich gegeben. Wenn ich zusammen mit meinen Eltern dorthin gegangen wäre. Wenn wir zu dritt durch die Blumen gerannt und getobt wären.

Doch das waren wir nicht. Ich ging allein.

Ich schloss die Augen und verschwand. Alles, was von mir übrig blieb, waren mein Körper und eine einzelne blaue Vinca, eine Erinnerung, an dem Platz von dem aus ich der Verzweiflung zusah, wie sie meine Familie zerriss.


Als ich meine Augen wieder öffne, liege ich mit verheultem Gesicht im Bett. Ich versuche mich, in der Dunkelheit zu orientieren. Langsam erkenne ich das Zimmer. Kein Wald mehr, keine Lichtung oder gar das Monster mit den fürchterlichen Augen und Zähnen. Aber auch meine Eltern sind nicht da. Ein Schluchzen schüttelt mich durch und ich fange an zu frieren.

Mühsam kämpfe ich mich aus der Bettdecke, nehme mein Kuscheltier zur Hand und drücke es fest an meine Brust. Mich halb hinter dem Kopf des kuscheligen Bären versteckend, gehe ich zögerlich auf die Zimmertür zu. Nur ganz langsam öffne ich sie und luge vorsichtig um die Ecke.

Noch immer habe ich schreckliche Angst, dass das Monster irgendwo lauert und mir erneut weh tut. Ein Knarren ertönt und ehe ich begreife, dass es nur meine Schritte auf den Holzdielen sind, die das Geräusch auslösen, renne ich, so schnell ich kann, durch die dunklen Gänge unseres Hauses.

Endlich angekommen, öffne ich die Schlafzimmertür meiner Eltern. Sie liegen friedlich schlafend in ihrem Bett und ich krieche in ihre Mitte. Noch immer stumm weinend klammere ich mich an die Brust meiner Mutter und genieße ihre fürsorglichen Streicheleinheiten. Mein Vater dreht sich um und fragt mich leise, was passiert ist. Aber ich kann nur schluchzen und ihn ebenfalls fest in die Arme schließen.

Selbst wenn es nur ein Traum war, so fühlte es sich dennoch entsetzlich real an, in den Armen meiner Eltern zu sterben. Die Schmerzen sind zwar weg, doch die Erinnerung lässt mich weiter Tränen vergießen und nach Schutz suchen.

Das Schlimmste allerdings ist, dass ich in der Dunkelheit des Zimmers noch immer den Blick aus toten, perlmuttfarbenen Augen spüren kann. Sie beobachten mich und warten sehnsüchtig auf eine Gelegenheit.




 
 
 

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