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[☆023] Angst - Kurzgeschichte

Hallo lieber Lesestern,


vor einigen Jahren habe ich an einer Ausschreibung zum Thema Angst mitgemacht. Meine Geschichte gehörte zu den drei Gewinnern und weil ich sie bis heute liebe, teile ich sie heute mit dir.


Die Geschichte beruht einerseits auf einem Traum, den ich tatsächlich mal hatte. Ein Traum in dem ich am Bahnhof stand und wartete, bis jemand kam und mich küsste. Ein Gefühl, das mich bis in die Realität verfolgte und stets falsch wirkte. Und andererseits beruht die Geschichte auf meiner Suche nach mir selbst. Ich habe jahrelang versucht herauszufinden wer ich bin und wer ich sein will. Dass ich mich auf dieser Suche selbst verloren habe, ist mir ist erst sehr spät aufgefallen. Und als ich alleine vor einer weißen Leinwand saß, habe ich den Mut gefunden, sie mit neuen Farben zu bemalen. Das war der Moment, in dem ich zu Jeremy wurde und mein altes, falsches Ich hinter mir gelassen habe.


Ich wünsche viel Spaß beim lesen und verrate mir doch in den Kommentaren, wer du bist.

Dein Jerry


Mann am Bahnhof


Angst

Anfangs merkte ich es nicht. Es fühlte sich nicht seltsam, anders oder gar merkwürdig an. Doch egal was es war, es hat mir gezeigt was ich am meisten Fürchte. Keine Dunkelheit, nicht der Tod, es ist keine Person oder ein Gegenstand. Nein, meine Ängste sind viel simpler und dennoch grausam.


Ich stand an einem Bahnhof. Das tat ich oft, auch wenn ich mich in diesem Moment nicht daran erinnern konnte. Obwohl ich dort war, fühlte es sich nicht danach an. Ich spürte keinen Wind, doch ich sah, wie sich die Blätter in ihm wiegten. Ich sah die Sonne scheinen, doch konnte ich ihre Wärme nicht spüren. Ich hörte keine Geräusche, obwohl ich genau wusste, dass ich etwas hören müsste. Und nach einer Weile die ich dort stand fiel mir auf, ich wusste gar nicht mehr warum ich hier stand. Wo wollte ich hin? Wie kam ich hierher?

Es fiel mir nicht ein. Aber ich blieb trotzdem an Ort und Stelle stehen. Langsam ließ ich meinen Blick wandern. Jetzt erst bemerkte ich, dass da noch mehr Leute standen und warteten. Sie waren verschwommen und farblos kalt. Ohne es zu versuchen war mir klar, meine Antwort würde ich nicht von diesen Gestalten kriegen.

Dann hörte ich ein lautes Geräusch. Ich erschrak, war es doch das erste Mal, dass ich an diesem Ort etwas hörte. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Ich behielt die Türen fest im Blick. Immer in der Hoffnung mir würde wieder einfallen, warum ich hier wartete. Doch auch nach dem die Türen zur Seite geglitten waren und mich in das Innere des Eisenmosters blicken ließen, war ich Ratlos. Gestalten, deren Formen vor meinen Augen verschwammen stiegen aus und gingen an mir vorbei. Ganz so als würden sie mich nicht sehen. Als wäre ich nicht dort. Ich sah einer dieser Gestalten hinterher als mich plötzlich etwas berührte.

Eine Hand legte sich sanft auf meine Schulter. Vor mir stand eine junge Frau. Ihre Berührung wirke so unendlich vertraut und doch fremd. Sie kam mir bekannt vor, doch mehr war da nicht. Kein Erkennen, nur diese merkwürdige Vertrautheit.

„Musstest du lange Warten?“, fragte sie mich. Ich schüttelte den Kopf. Wobei ich erst jetzt in ihr 'Gesicht' sah. Es war leer. Ich konnte sie sehen, ihr Körper war klar und nicht verschwommen. Aber ihr Gesicht fehlte. Keine Augen, kein Mund, keine Nase, wie eine Schaufensterpuppe. So leer, dass ich mich fragte ob sie Real ist.

„Ich bin froh dich wiedergefunden zu haben“, flüsterte sie mir ins Ohr. Sie nahm mein Gesicht sanft in ihre Hände und küsste mich. Doch ich konnte es nicht spüren. Ich fühlte nichts. Da waren keine Lippen auf den meinen. Sie war merkwürdig fern obwohl sie mir so nah stand. Eine fremder Frau und mir wurde klar: Sie war es nicht. Nicht die Person auf die ich wartete. Als sie sich wieder ein Stück von mir entfernte, fing ihre Maske an zu bröckeln. Das puppenähnliche Gesicht zerfiel und offenbarte kalte Leere. Für einen Moment schloss ich meine Augen.


Als ich sie wieder öffnete, war der Bahnhof leer. Keine Gestalten, kein Zug und auch die fremde Frau. Alle waren weg. Ich war allein. Aber ich verstand es nicht. Weil ich noch immer nicht wusste wieso ich an diesem Ort war, wer diese Frau war, wer ich war. War die Frau nur eine Illusion? Hatte ich sie mir eingebildet? Ein leichter Luftzug umschmeichelte meinen Körper. Ein Regentropfen fiel vor mir auf den Boden. Wieder schloss ich die Augen.

Und als ich sie diesmal öffnete, saß ich in einem Zug. Ich fühlte mich wohl. Es war eine Art von Vertrautheit, wie an einem Ort den man noch aus einem Traum kennt. Oder aus einer Erinnerung. Doch wusste ich nicht woher das Gefühl kam.

Wo bin ich zugestiegen und wo hatte ich vor auszusteigen? Hatte ich ein Ziel? Ich sah mich um. Der Zug war fast leer, die meisten Leute standen bereits an den Ausgangstüren. Sie waren bereit zum Aussteigen sobald der Zug anhält. Was war mit mir? Wollte ich den Zug ebenfalls verlassen?

Ich versuchte die Personen zu erkennen. Doch je mehr ich mich auf einen von ihnen konzentrierte, umso mehr verschwamm seine Gestalt. Ein leichter Ruck signalisierte mir, dass wir angekommen waren. Nur wo, das war mich nicht klar. Mein Blick glitt zum Fenster. Es regnete. Ich konnte die Regentropfen sehen, wie sie sich ein Wettrennen über die Scheibe lieferten. Dann blickte ich hinaus.

Ich konnte einen Bahnhof durch das Fenster erkennen. Dort stand ein junger Mann. Er sah den Leuten nach die gerade dabei waren den Zug zu verlassen. Seine Augen hefteten sich an eine der Gestalten. Er sah ihr nach bis sie außer Sicht war. Langsam stand ich auf und trat durch die Zugtür hinaus. Der Regen den ich von innen beobachtet hatte, traf mich mit voller Wucht. Ich nahm es nicht wirklich wahr. Zu sehr wollte ich wissen wer er war. Vorsichtig ging ich auf den Mann zu und begriff es mit jedem weiteren Schritt. Ich berührte ihn sanft an meiner Schulter. Erschrocken sah er mich aus meinen Augen an. Ich wusste was er dachte, weil ich es dachte. Worte glitten aus meinem Mund. Ohne von mir gehört zu werden, ohne von ihm verstanden zu werden. Ich lächelte. Er verstand.

Vorsichtig nahm ich ihn in den Arm, ich spürte wie seine Tränen auf meine Schulter tropften. Ich spürte wie sein Körper bebte und er sich an mir festhielt. Wir spürten es. Wir verstanden es.


Ich schloss meine Augen und als ich sie öffnete sah ich wieder den Zug. Mein Blick wanderte über den Bahnhof. Niemand war mehr zu sehen. Die Sonne kam langsam hinter Wolken hervor, aus denen sich sanft kleine Schneeflocken lösten. Sie glitzerten in den ersten hellen Strahlen und legten sich träge auf meinen Körper. Die Starre meines Körpers löste sich und ich setze einen Fuß vor den anderen. Ich ging auf eine der offenen Zugtüren zu. Meine Hand griff bereits nach der Halterung, als ich mich noch einmal umdrehte.

Ein Sonnenstrahl beleuchtete die Stelle, an der ich bis eben noch stand und am Boden blühte eine einzelne Blume. Eine Christrose* - Nimm mir meine Angst. Ich lächelte. Deshalb war ich also hier. Ich stieg in den Zug, dessen Ziel ich nicht kannte, doch das machte nichts. Denn jetzt war ich wieder ganz und konnte meinen Weg fortsetzen. Ich setzte mich auf einen freien Platz.

Diesmal schloss ich meine Augen und erwachte als ich sie wieder öffnete. Langsam kehrte ich von einem langen Traum zurück in meinen Körper. Ich wache auf und setze mich in meinem Bett aufrecht hin. Mein Blick gleitet durch die Dunkelheit und ich fange an zu weinen.


Ich habe auf mich gewartet. Ich habe mich selbst gesucht. Und ich habe mich gefunden als ich längst glaubte mich für immer verloren zu haben. Ich hatte Angst mich zu verlieren. Ich hatte Angst davor, mich an mein Falsches Ich, an die Maske, die ich der Welt zeigte, zu verlieren und zu vergessen wer ich bin.




*Die Christrose steht in der Blumensprache für "Nimm mir meine Angst"


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