[❦023] Hass in meinen Geschichten
- Jeremy
- vor 3 Tagen
- 8 Min. Lesezeit
Hallo Leseheld,
du sitzt vor dem leeren Dokument, der Cursor blinkt wie ein ungeduldiger Metronomschlag, und plötzlich ploppt dieser Gedanke hoch: „Soll meine Heldin wirklich so sehr hassen?“ – oder ist das schon zu extrem? Hass ist die stärkste aller dunklen Emotionen, ein brodelnder Schmelztiegel aus Kränkung, Angst und brennender Wut. Er kann Geschichten wie ein Flächenbrand in Bewegung setzen, Figuren zu unvergesslichen Taten treiben – oder alles in belangloser Schwarzweiß-Malerei ersticken lassen. Wie viel Hass verträgt ein Held, ehe er selbst zum Bösen wird?
Bevor wir gleich in die Werkzeuge, Fallstricke und literarischen Vorbilder eintauchen, lass uns einen Schritt zurücktreten und das Gefühl selbst begreifen. Denn erst wenn wir verstehen, woher dieser Funke stammt und wie er sich ausbreitet, können wir ihn kontrolliert auf die Seiten bannen, ohne dass unsere Story verbrennt.
Bereit, das Feuer zu zähmen? Dann steigen wir ein.

Kapitel 1 - Was ist Hass eigentlich?
Hass wird heutzutage sehr inflationär ausgesprochen. Ich hasse dies, ich hasse das ... Aber was ist Hass wirklich? Kann ich jemanden wirklich hassen, den ich gar nicht kenne? Der Lehrer, der mich nachsitzen lässt, weil ich im Unterricht gestört habe. Der Chef, der mich Tag ein Tag aus Kaffee kochen lässt. Hassen wir sie wirklich? Ist es nicht viel mehr ein aufwallendes Gefühl der Wut, das wir unter dem Sammelbegriff "Hass" aussprechen um unserer Unzufriedenheit Luft zu machen?
Von diesem Wort kann alles und jedes verschluckt werden. Doch sobald du Hass als zentrale Triebfeder in eine Geschichte einbaust, musst du genauer hinsehen, denn das, was der Duden nüchtern „heftige Abneigung; starkes Gefühl der Ablehnung und Feindschaft“ nennt, ist kein beiläufiger Gefühls-Zuckerguss, sondern ein dauerhafter Aggregatzustand der Seele.
Schon der Wortstamm verrät etwas über diese Schärfe: Hass geht auf das althochdeutsche haz zurück, das „Feindseligkeit, aggressive Handlung“ bedeutete und mit einer indogermanischen Wurzel kad- („sich stürzen auf“) verwandt ist. Darin steckt also von Anfang an ein aktiver Angriffsgestus – nicht bloß ein dumpfer Groll.
Die Philosophie zerlegt das Gefühl weiter. Man spricht auch von einem Verankerungspunkt der konkreten Kränkung und einem Verdichtungsbereich, dem Objekt, auf das sich alles entlädt. Der Zahnarztbohrer, der beim Angstpatienten Panik bündelt, wird zur verhassten Person oder Gruppe. Und je diffuser dieser Verdichtungsbereich wird – in der fantastischen Literatur etwa „die Magier“, „die Regierung“, „die Elfen“ –, desto destruktiver kann sich der Hass ausweiten.
Psychologisch gilt Hass als „kalte“ Emotion. Anders als die heiße, kurz aufflammende Wut entwickelt er sich langsam, rationalisiert sich und hält dann hartnäckig an. In der Tiefenpsychologie liest man ihn sogar als nach außen gewandten Todestrieb: eine auf Vernichtung ausgerichtete Leidenschaft, die keine erlösende Katharsis kennt und erst endet, wenn ihr Objekt ausgelöscht oder innerlich bedeutungslos geworden ist.
Für dich als Autor*in bedeutet das: Hass ist kein flüchtiger Sturm, sondern ein Gletscher, der sich unaufhaltsam vorarbeitet. Seine Temperatur bleibt niedrig, doch seine Macht wächst mit jedem Zentimeter. Wenn du diese Kälte in deine Figuren einsinken lässt – durch kleinste Gesten, rationale Rechtfertigungen und das ständige, leise Knirschen unter der Oberfläche – fühlt der Leser den Druck, noch bevor das Eis bricht.
Kapitel 2 - Der Unterschied zwischen Hass und Wut
Blitz und Glut – so fühlen sich Wut und Hass oft an, doch sie zünden ganz verschieden: Wut ist der jähe Schlag eines Gewitters, Hass das langsam glimmende Feuer, das selbst nassen Stein sprengt.
Wut entsteht situativ, meist als unmittelbare Reaktion auf Verletzung oder Frustration. Sie ist impulsiv, kurzatmig und braucht – wie ein Blitzschlag – ein direktes Gewitterzentrum. Psycholog*innen beschreiben sie als „heftige, unbeherrschte Affektreaktion“, oft begleitet von erhöhtem Erregungsniveau, rasendem Puls und der typischen Röte im Gesicht. Wenn die Spannung sich entlädt. Ein Schrei, ein Schlag auf den Tisch, dann ebbt die Erregung ab.
Hass dagegen speist sich nicht aus der Sekunde, sondern aus Erinnerung. Aristoteles (zitiert in einer aktuellen Buchanalyse des österreichischen Gerichtspsychiaters Reinhard Haller) grenzt beides so ab: Wut wolle nur den momentanen Schmerz abladen, Hass dagegen ziele auf dauerhafte Zerstörung des Hassobjekts. Hass hält sich darum auch dann am Leben, wenn der Auslöser längst verschwunden ist – manchmal sogar über Generationen hinweg.
Man kann es sich wie zwei verschiedene Motoren vorstellen:
Eigenschaft | Wut | Hass |
Zündung | Akute Kränkung, Demütigung | Langzeit-Kränkung, wiederholte Verletzungen |
Dauer | Minuten bis Stunden | Wochen bis Jahre |
Temperatur | „Heiß“, impulsiv, laut | „Kalt“, berechnend, leise oder starr |
Ziel | Spannung abbauen | Objekt herabsetzen / vernichten |
Narrativer Nutzen | Schnelle Eskalation, Action, Komik | Langfristiger Plotmotor, Antagonist*in, innere Vergiftung |
Gefahr | Kurzschluss-Handlung | Systematische Grausamkeit |
Für Autor*innen bedeutet das:
Wut eignet sich für Szenenrhythmus. Eine Heldin, die in einem Streit ausrastet, bringt sofort Bewegung und eröffnet Konsequenzen – Entschuldigungen, Scherben, neue Bündnisse.
Hass trägt ganze Handlungsbögen. Er rechtfertigt aufwendige Rachepläne, jahrzehntelange Intrigen und moralische Verformungen. Seine kalte Logik kann Leser*innen fesseln, weil sie das Warum ergründen wollen.
Kapitel 3 - Das Gegenteil von Hass ist nicht Liebe
Ich selbst bin auf das Thema über eine Fanfiction gestoßen. Den Namen kenne ich nicht mehr und leider finde ich die Geschichte auch nicht wieder. Aber ich weiß noch, dass es in der Geschichte viel um Hass ging. Um Hass, der soweit ging, dass er alles um sich herum verzehrte. Freunde und Feinde gleichermaßen. Doch als der Held erkannte, dass das Gegenteil von Hass nicht Liebe ist, wandelte sich die Reise.
"Wenn das Gegenteil von Glück nicht Traurigkeit ist, sondern Langeweile, dann sollte man sich im Leben nicht fragen, was einen glücklich machen, sondern was einen mit Begeisterung füllen würde. Und mit der gleichen Argumentation, wäre Hass nicht das wahre Gegenteil von Liebe. Denn selbst Hass ist eine Art von Respekt, den man der Existenz von jemandem entgegenbringt. Wenn man sich genug um jemanden sorgt, um sein Sterben dem Leben vorzuziehen, bedeutet das, dass man an ihn denkt.
Was also ist dann das Gegenteil von Liebe? Was ist tödlicher als Hass, und fließt ohne Grenzen?
Gleichgültigkeit."
In der Konsequenz kam also raus, dass Gleichgültig der Moment ist, wenn du es schaffst über deinen Hass hinwegzukommen um daran zu wachsen. Wie mächtig Gleichgültigkeit sein kann, zeigte schon die britische TV-Miniserie Merlin (1998). Zauberer Merlin besiegt die Göttin Mab nicht mit Magie, sondern indem er – und schließlich ganz Camelot – ihr schlicht die Aufmerksamkeit entzieht. Mab vergeht, weil niemand mehr an sie glaubt. (Selbst heute noch ist das eine meiner absoluten Lieblingsfilmszenen!)
Für mich bedeutet das beim schreiben, dass ich neben Hass auch Gleichgültigkeit nutze um die Entwicklung meiner Figuren darzustellen. Es braucht Zeit um diese Gefühle zu wandeln, um sich an Schmerz zu gewöhnen oder Wunden verheilen zu lassen. Und erst dann, wenn sie in der eigenen Entwicklung weit genug sind und sich nicht mehr selbst zu vergiften, dann kommen sie voran.
Und ich habe genau das auch in meiner ganz persönlichen Entwicklung zu spüren bekommen. Den alles verzehrenden Hass, der einen dazu bringen möchte Dinge zu tun, von denen man weiß, dass sie abscheulich und falsch sind. Die Wut darüber und Machtlosigkeit, weil man selbst sich an Regeln hält, auf die andere scheißen. Und dann kam irgendwann der Moment, wo mir die Person egal wurde und einfach keinen Platz mehr in meinem Leben eingenommen hat.
Kapitel 4 - Hass, Liebe, Gleichgültigkeit – eine giftige Dreifaltigkeit
Wie passt das alles zusammen? Wer zum ersten Mal den Satz hört, das Gegenteil von Liebe sei nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit, stutzt meist. Doch schon vor über hundert Jahren haben zahlreiche Personen ebenjenen Schlüssel zum dramatischen Potenzial dieser drei Kräfte hervorgebracht.
Liebe setzt Bindung frei, Hass bindet dieselbe Energie zerstörerisch rückwärts, Gleichgültigkeit nimmt der Bindung schlicht den Sauerstoff. Ohne emotionale „Verankerung“ verdunstet der Mensch vor unseren Augen. Doch wer genau damit angefangen hat und der erste war, der diesen Zusammenhang erkannt hat, ist nicht gewiss. (https://quoteinvestigator.com/2019/05/21/indifference/)
Der deutsche Sozialpsychologe Erich Fromm spitzte das in seinem späteren Werk zu: In jedem Menschen ringt eine „biophile“ Kraft (Liebe zum Leben) mit einer „nekrophilen“ (Zerstörungstrieb). Erst wenn beide erschöpft sind – wenn weder Liebe noch Hass genügend innere Hitze erzeugen – bleibt der erkaltete Rest: Indifferenz. Für Erzähler*innen heißt das, dass Gleichgültigkeit nicht das sanfte Abklingen, sondern den Endpunkt einer Gefühls-Eruption markiert – die wahre Emotionswüste, in der keine Handlung mehr gedeihen kann.
Aktuelle philosophische Debatten knüpfen hier an. Die Berliner Professorin Hilge Landweer unterscheidet präzise zwischen Hass (Vernichtungstrieb) und Verachtung (Abwendung „von oben“). Letztere sei oft der Nährboden, auf dem Hass erst keimt. Sie warnt: Wer permanent verachtet wird, schlägt selten sofort zurück – er kühlt aus, verliert Empathie, und aus diesem emotionalen Permafrost wächst später ein umso härterer Hass. Für deine Figuren bedeutet das: Ein Moment der Verachtung kann dramaturgisch wichtiger sein als ein offener Schlag ins Gesicht.
Für die eigenen Texte ergibt sich eine elegante Dramaturgie-Spirale:
Liebe/Bindung – die Figur öffnet sich.
Verletzung – der emotionale Bruch.
Hass – die glühende Reaktion.
Verachtung – die Kältephase.
Gleichgültigkeit – der Nullpunkt oder ein möglicher Neuanfang.
Dort, am absoluten Tiefpunkt, bietest du zwei Auswege: Entweder die Figur taut wieder auf (Rehumanisierung) oder sie bleibt im Frost und verkommt zum tragischen Schatten ihrer selbst. Beide Wege geben deinem Plot Wucht – aber nur, wenn du die Temperaturkurve glaubwürdig schreibst und den Wechsel von Hitze zu Kälte spürbar machst.
Kapitel 5 - Kann Hass eine Figur trotzdem sympathisch machen?
Hass und Sympathie wirken auf den ersten Blick wie chemische Gegenspieler, doch neuere Literatur- und Empathieforschung erinnert uns daran, dass Leser*innen nicht Zustimmung, sondern Verstehen suchen. Wenn wir die seelische Mechanik einer hasserfüllten Figur transparent machen – ihre Wunde, ihre Werte, ihre Logik –, entsteht Nähe ohne moralische Entlastung. Die Oxford-Forscherin A. E. Denham spricht hier von “narrativer Empathie“: Wir teilen Gefühle, ohne sie gutzuheißen.
Ein Paradebeispiel liefert Shakespeare / Richard III. Richard spuckt Gift und Zynismus, doch sein bissiger Humor, sein Charisma und die fast sportliche Offenheit, mit der er seine Intrigen kommentiert, verführen uns zum heimlichen Applaus. Er hasst – und unterhält. Man spürt sein Leid unter dem Sarkasmus, sodass Mitgefühl durch die Risse sickert.
Ganz anders Javert aus Victor Hugos Les Misérables: Sein Hass gilt nicht Valjean persönlich, sondern jedem Gesetzesbrecher. Diese starre Loyalität gegenüber einem höheren Kodex macht ihn nachvollziehbar; er bleibt eisern er selbst, selbst wenn es ihn zerstört. Leser*innen respektieren die Konsequenz – und deshalb schmerzt sein Fall.
Bei Mary Shelleys Frankenstein-Geschöpf entsteht Sympathie durch tragische Vorgeschichte: „Ich war gütig und gut. Nur das Elend ließ mich böse werden.“ Wir sehen, wie Ablehnung und Einsamkeit seinen Hass überhaupt erst gebären. Die Figur behält ihre Monstrosität – doch ihr Leid macht sie zu etwas Tieferem als einem Schreckgespenst.
Für deine eigenen Charaktere heißt das:
Verletzlichkeit zeigen. Einen Moment des Zweifelns oder einen winzigen Funken Sehnsucht wirken Wunder.
Moralische Kohärenz wahren. Sie dürfen grausam sein, aber sie müssen ihr Handeln vor sich selbst begründen können.
Talente oder Tugenden streuen. Humor, Intelligenz, Loyalität – jede positive Facette ist ein Faden, an dem Leser*innen ziehen können.
Grenzen setzen. Sympathie entsteht aus Verständnis, nicht aus Rechtfertigung. Lass den Hass Folgen haben.
So balancierst du auf dem schmalen Grat: Die Figur bleibt furchteinflößend – doch wir begleiten sie atemlos, weil wir ihre innere Glut fühlen, statt nur ihr Feuerwerk zu betrachten.
Fazit: Hass als Brandbeschleuniger – nicht als Endstation
Du hast jetzt gesehen, wie Hass tickt: Er kommt selten wie ein Donnerschlag, sondern schiebt sich langsam wie eine kalte Lawine ins Leben deiner Figuren. Wenn du seine Quelle klar benennst – die verletzte Identität, das vergiftete Weltbild, die verdrängte Sehnsucht – wird er glaubhaft und gefährlich zugleich.
Nutze Wut für die kurzfristigen Funken, die eine Szene zum Knallen bringen. Lass Hass das tiefe Grollen sein, das Kapitel für Kapitel Spannung aufbaut. Und vergiss die Gleichgültigkeit nicht: Sie ist der Moment, in dem sich das Feuer legt oder deine Figur endgültig verglüht.
Wichtig ist der respektvolle Umgang mit dieser Emotion – für dich und deine Leser*innen. Gib deinen Hassfiguren Tiefe, aber zeig auch die Konsequenzen: zerbrochene Beziehungen, körperliche Spuren, seelische Narben. Dann wird der Hass nicht zur billigen Plot-Attraktion, sondern zum Motor echter Entwicklung.
Zum Schluss der wohl wichtigste Tipp: Mach Pausen. Nach einer Szene, in der die Finsternis pulsiert, schalte einen Gang runter – eine kleine Geste der Freundschaft, ein augenzwinkernder Dialog, ein Moment stiller Schönheit. So bleibt deine Geschichte ausgewogen, und deine Leser*innen wie auch du selbst verbrennt euch nicht an der Glut.
In diesem Sinne: Spiel mit dem Feuer, aber halte immer einen Eimer Empathie griffbereit.
Euer Jerry
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