Hallo lieber Lesestern,
ich arbeite schon länger an einer Geschichte, die ich gerne nach und nach mit dir teilen würde. Dabei geht es um jemanden der auf einem Fischkutter mitten auf dem Meer aufwacht und weder weiß wie er dort hingekommen ist, noch wie er von dort wegkommt. Allein mit seinen Gedanken, arbeitet die Person ihre Traumata nach und nach auf. Gesammelt läuft die Geschichte unter dem Titel "Meine Seele und das Meer" und heute bekommt ihr das Kapitel "Vogelkäfig" zu lesen.
Content Notes
Dein Jerry
Vogelkäfig (Meine Seele und das Meer)
Knarzend bewegt sich das Metall unter meinen nackten Füßen. Sanft wiegt es sich im Takt des Wellengangs, der sich mit bloßem Auge kaum bemerkbar macht. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen und starre dabei auf meine blanken Zehen. Erinnere mich dabei daran, wie meine roten Sandalen vom ersten Sturm fortgetragen wurden. Wie sich das Wasser über die Reling des kleinen Fischkutters erhob und mit sich riss, was nicht niet und nagelfest war.
Während ich vor meinem inneren Auge noch einmal sehe, wie die Sandalen in der tiefen blauen See verschwinden, überlege ich, wie lange das wohl bereits her ist. Verstohlen wandert mein Blick von meinen Füßen zur Wand des Steuerstands. Ich hatte dort mit einem kaputten Angelhaken Striche eingeritzt. Für jeden Tag einen. Doch bin ich schon so lange auf diesem Boot, dass ich irgendwann aufgegeben habe mitzuzählen. Jetzt erkenne ich nur noch anhand des Rosts, der sich um die Kratzer sammelt, wie viel Zeit vergeht.
Ich sehe mich um, so wie ich es auch damals getan haben musste, als ich zum ersten Mal wach wurde. Die Loreley ist ein alter blauer Fischkutter. Im vorderen Teil liegt ein großes Netz, das mittels Seilwinde aus dem Wasser geholt werden kann. Drum herum stehen sieben rostige Eimer, zwei davon mit Werkzeug gefüllt, der Rest voller Regenwasser. Im hinteren Teil des Bootes befindet sich der Steuerstand, an dessen Außenwand zwei Rettungsreifen hängen. Darin befinden sich das Steuerrad und eine kurze Treppe.
Mit langsamen Schritten folge ich meinem Blick und steige hinab in das Innere des Kutters. Die Hängematte bewegt sich im Takt des Wellengangs. Der Raum ist nicht hoch genug, um aufrecht stehen zu können und kaum lang genug, um sich beim Schlafen auszustrecken. Nur in der Breite ließe er sich nutzen. Aber eine Kühlbox und zwei Kisten voller Dosenobst nehmen den Platz bereits vollends ein.
Seufzend wende ich mich um und gehe wieder aufs Deck. Strecke mein Gesicht dem Himmel entgegen. Ein Brennen bemächtigt sich meiner Kehle. Ein Druck in der Brust erschwert mir das Atmen und ich spüre, wie sich Tränen in meine Augen kämpfen. Noch immer kämpfe ich gegen sie an. Schon so lange. Viel zu lange. Wann nur kann ich endlich aufgeben?
Ich schüttle den Kopf und setze mich an die Reling. Leise plätschernd gleiten meine Füße in das eisige Nass des Ozeans. Wellen steigen auf, klatschen sanft gegen den Kutter. Während sich das Boot nicht daran stört, macht sich bei mir eine Gänsehaut breit. Obwohl die Sonne die Luft aufheizt, reichen die wenigen Strahlen nicht aus, das Gleiche mit dem Wasser zu erreichen.
Leicht bewege ich meine Beine und löse weitere Wellen aus. Es beruhigt mich. Denn im unruhigen Meer spiegle ich mich nicht. Mit der Zeit bin ich des Anblicks überdrüssig geworden. Das des Meeres und meines Eigenen. Vielleicht weil sich beides wie ein Käfig anfühlt. Der Ozean ist mein Gefängnis, mein Wächter und mein Folterknecht.
Im Grunde bin ich es gewohnt. Es ist nur eine weitere Hülle, die mich vom Leben fernhält. Eine Mauer, die ich nicht überwinden kann. Auch ich selbst bin mir vor langer Zeit zu einem Käfig ohne Schlüssel geworden. Schon als ich klein war, habe ich mich selbst verschlossen. Vor meiner Familie, meinen Freunden und vor allem, vor mir selbst.
Aus Angst. Furcht davor, fortan die Liebe missen zu müssen.
Alleine zu sein und dem Gefühl, vor Einsamkeit umzukommen. Ich sah keinen anderen Weg. Nur zwei Extreme.
Und auch wenn ich diese Entscheidung nur unbewusst getroffen habe, war ich mir der Ketten bewusst. Der Mauern um mein Herz. War sogar stolz darauf. Weil mir nun keiner mehr weh tun konnte. Damals so klein. Heute groß. Der Unterschied ist allerdings kaum von Bedeutung, denn dazwischen herrschte eine Zeit, in der es allein diese Ketten waren, die mich zusammen hielten.
Deshalb halte ich auch heute noch, was mir wichtig ist, nah bei mir, damit ich es nicht verlieren kann. Nicht so wie die roten Sandalen, die das Wasser mich sich riss. Ich sperre es weg. Sperre mich selbst weg. Damit mir niemand mehr nimmt, wer ich bin. Dabei habe ich mich selbst verloren. Unter all diesen Schichten, hinter all diesen Mauern und Ketten. Am Ende war es nicht die Angst, alles zu verlieren. Ich selbst war der Grund, weshalb ich alles verlor.
"Wer bin ich?"
Abrupt halte ich in der Bewegung inne. Keinen Millimeter rühren sich meine Füße und auch das Wasser beruhigt sich langsam. Der bekannte Anblick meiner selbst zeichnet sich in dem wolkenverhangenen Blau ab. Ein Sturm zieht auf.
Wieder spüre ich dieses Brennen in mir, während mein Blick den Konturen meines Spiegelbilds folgt. So bekannt und gleichzeitig so fremd wie eh und je. Noch nie hat das Bild zu dem gepasst, was ich empfinde. Zu dem, wer ich bin. Und je mehr ich von mir sehe, desto mehr schmerzt es mich.
"Wer bin ich?"
Die See wird unruhig. Ein eiskalter Wind pfeift mir um die Ohren und lässt mich schaudern. Mir stellen sich die Haare auf und ich bin froh darüber einen Grund zu haben aufzusehen. Wieder laufe ich davon. Vor der Wahrheit, die tief in mir steckt. Eingehüllt von Ketten und hinter dicken Mauern. Ich kenne sie. Ich kenne die Antwort auf die Frage, die ich mir selbst ständig stelle.
Aber ich bin noch nicht bereit dafür, mich aus dem Käfig zu befreien, den ich selbst errichtet und seine Türen verschlossen habe. Noch immer lähmt mich die Angst. Obwohl ich bereits einsam bin und alles verloren habe. Irrationale Angst hält mich zurück. Und manchmal wage ich mich zu fragen: Wann darf ich endlich sein?
Denn mir wird bewusst, dass es nicht meine eigene Angst ist, die mich lähmt. Es ist die meiner Familie, Bekanntes zu verlieren. Sich an Unbekanntes gewöhnen zu müssen. Angst vor Fehlern. Dabei bemerken sie nicht, dass mich kein Fehler unglücklicher machen könnte, als weiter dem Leben nur zusehen zu dürfen.
Die ersten Tropfen landen in meinem Gesicht. Der Sturm hat den Himmel schwarz gefärbt und der Wind reißt die See auf. Wellen brechen in beachtlicher Geschwindigkeit gegen die Reling. Die Gischt spritzt mir ins Gesicht. Kälte bemächtigt sich meiner.
Wie gerne würde ich gerade weinen. Um mich selbst. So macht man das schließlich, wenn jemand stirbt.
Vorsichtig stehe ich auf, starre ein letztes Mal auf das wilde Meer hinaus. Tapsend finde ich den Weg zurück ins Steuerhäuschen und verstecke mich und meinen Schmerz vor der Welt. Ich lege mich in die Hängematte und ehe mich die Schwärze einhüllt, frage ich mich, ob es irgendjemand merkt. Ob wohl schon jemand bemerkt hat, dass der Vogel im Innern des Käfigs, der sich selbst die Flügel nahm, längst Tod ist.